Goethe im Profil

Fliegende Goethe-Blätter

Goethe in der modernen Welt

seemann-bibliothek Annette Seemann liefert in dem hübschen Bändchen aus der Insel-Bücherei eine kurze Geschichte der Weimarer Bibliothek von ihren Anfängen als Fürsten-Bibliothek bis zur aktuellen Lage nach dem Umbau und dem verheerenden Brand vom 2. September 2004. Bibliothekarisch ist das Büchlein rundum gelungen und trotz des eher trockenen Themas für den Interessierten vergnüglich und leicht zu lesen. Allerdings muss man dabei über zahlreiche Druckfehler hinwegsehen.

Insbesondere zwei Epochen behandelt die Autorin mit großer Ausführlichkeit und Empathie: Die Zeit der Oberaufsicht Goethes über die Bibliothek und die Solidarität und tätige Hilfsbereitschaft, die der Bibliothek nach dem Brand entgegengebracht wurde.

Über Goethe als Nutzer und Pfleger der Bibliothek lesen wir:

In seinen Weimarer Jahren vor der Übernahme der Oberaufsicht über die Bibliothek (1775–1797) sei er keineswegs pünktlich mit der Rückgabe der Bücher gewesen, zum Teil behielt er Werke bis zu 20 Jahre lang, und – was sich ein heutiger Bibliotheksbenutzer keinesfalls gestatten dürfte – er nahm mitunter auch einzelne Bände der großen Bibliothekskataloge mit nach Hause, ebenso wie 1814 den Gispabguß [sic!] eines Kunstwerks, der erst nach seinem Tode an die Bibliothek zurückerstattet wurde.

Allerdings ging Goethe dann beispielhaft voran, indem er 1797 alle entliehenen Bücher (soweit er sie nicht weiterverliehen hatte!) zurückgab und gemeinsam mit Voigt eine erste Benutzungsordnung der Bibliothek erstellte, die Seemann dankenswerter Weise voll- ständig wiedergibt.

Witzig auch Seemanns Formulierungen betreffend den Buchbestand Carl Ludwig Fernows, den die Weimarer Bibliothek aus dessen Nachlass erwirbt:

Fernow hatte während der napoleonischen Unruhen in Rom nicht gezögert, Bücher aus Palästen und Bibliotheken, die gewaltsam geöffnet worden waren, günstig zu erwerben, darunter wahre Kostbarkeiten wie etwa die Kommentare zu Petrarcas Canzoniere von 1553 und 1541 oder auch Pietro Bembos Rime in Aldo Manuzios Ausgabe. Er hatte sich wortwörtlich jedes Buch vom Munde abgespart, die Samm- lung war sein Arbeitswerkzeug, aber auch seine Leidenschaft.

Zu Deutsch: Fernow hatte in Rom günstig bibliophile Hehlerware angekauft, seine kargen finanziellen Mittel dabei aber so verausgabt, dass er Hunger leiden musste. Nach Fernows Tod übernimmt der Herzog dessen Büchersammlung und versorgt im Gegenzug die Fernowschen Nachkommen. Goethe schreibt in dieser Sache am
4. August 1809 an Voigt:

Was auf Fernows Büchernachlaß sich bezieht, folgt gleichfalls unterzeichnet. Wir machen zwar eine gute Acquisition [sic! Seemann zitiert nicht zeichengenau!], aber wir bevortheilen Niemand. Wären diese Bücher zur Auction gekommen, so hätten wir daraus erstanden, was uns fehlte; jetzt haben wir immer noch mit den Doubletten einige Bemühung, die aber doch nicht ohne Frucht seyn wird. Für die Kinder ist gesorgt. Durchlaucht dem Herzog geziemt so zu handeln und der Curator wird mit den Creditoren wohl auch fertig werden.

Auch hier hilft vielleicht eine kleine Verdeutlichung: Zwar habe man durch die komplette Übernahme der Bibliothek nun einige Dubletten, die man bei einer Auktion hätte vermeiden können, aber da man diese ‚fruchtbringend‘ weiterveräußern könne, hat man sicherlich ein gutes Geschäft gemacht. Und da die Kinder versorgt sind, muss sich auch keiner ein Gewissen machen, ob man die gewaltige Sammlung um die 5.700 Taler, über beinahe zwei Jahrzehnte hinweg zu zahlen, nicht vielleicht doch etwas zu wohlfeil erworben habe. Bibliomanen unter sich!

Auch die Zeit der Krise im Jahr 2004 und die Ereignisse in der Zeit danach sind kenntnisreich und mit Liebe zum Detail dargestellt.

Beinahe sympathisch ist es da, dass Frau Seemann nicht immer und überall ganz auf der Höhe ist. So stellt sie etwa bezüglich der auf die preußische Niederlage bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 in Weimar erfolgten Plünderungen sachlich fest:

Und auch Schiller scheint unter den Plünderungen nicht sehr gelitten zu haben.

Eine Feststellung, die – auch angesichts der Tatsache, dass Schiller bereits am 9. Mai 1805 verstorben war – kaum Widerspruch finden wird.

Alles in allem ein kleines, vergnügliches Büchlein, das an einem Abend über alles Wichtige zur Geschichte der Weimarer Fürsten- Bibliothek informiert.

Annette Seemann: Die Geschichte der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Insel-Bücherei 1293. Frankfurt/M.: Insel, 2007. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 127 Seiten. 12,80 €.

Wenn sich die Völker selbst befrein, …

Die Neue Solidarität stellt fest, wer was wie gut verstanden hatte:

Da Frankfurt die Geburtstadt des „Schürzenjägers“ Goethe ist, nutzten wir ein Zitat von James Fenimore Cooper über Schiller und Goethe – „Der vorherrschende Geschmack und die Laune der Mode kann jederzeit einen Goethe hervorbringen, aber nur Gott erschafft Männer wie Schiller“ -, um von den Frankfurtern eine Reaktion zu provozieren. Diese Reaktion ließ natürlich nicht lange aus sich warten. Diejenigen, die mit den Namen von Schiller und Goethe noch etwas anfangen konnten, sahen sich sofort veranlaßt, „ihren“ Goethe verteidigen zu müssen. Wenn man ihnen dann aber verständlich machen konnte, daß es nur Friedrich Schiller war, der die Ereignisse der französischen Revolution, die Oligarchie und die Menschheit an sich vollends verstanden hat, wurde ihnen ziemlich schnell klar, daß Goethe einige Sachen nicht so gut verstanden hatte und seine Idee von einer gesellschaftlichen Weitereinwicklung, um die Menschen von den „mentalen Ketten“ des Feudalismus zu befreien, zumindest nicht vollständig entwickelt war.

Was in aller Welt mag Goethes „Idee von einer gesellschaftlichen Weitereinwicklung“ gewesen sein?

„Clemens Wenzeslaus Coudray“

bosse_coudray Biographie über eine weitere Person, nach der heute kein Hahn mehr krähen würde, wenn nicht Goethe sie gekannt hätte. Coudray wird 1775 in Ehrenbreitstein als Sohn eines Tapezierers geboren und bildet sich nach einer Ausbildung zum Tapezierer und Dekorateur in Berlin und Paris zum Architekten aus. Nach einigen Jahren in Fulda und einer Studienreise durch Italien wird er 1816 vom Weimarer Großherzog nach Weimar berufen, wo er die Stelle als Oberbaudirektor antritt und dort bis zum Ende seines Lebens wirkt. Coudray ist ein Spätling des Klassizismus und muss noch zu Lebzeiten erleben, dass er aus der Mode kommt und von jüngeren Kollegen ausgebootet wird. Er stirbt 1845 in Weimar, wo er auch beigesetzt ist.

Hannes Bosse hat eine kurze Biografie Coudrays geschrieben, die trotz aller Kürze nicht ohne Wiederholungen auskommt. Das Buch weist zahlreiche Fehler auf und macht insgesamt einen unordent- lichen Eindruck. Besonders in den späteren, systematisch gewichteten Kapiteln geht es oft wie Kraut und Rüben durch- einander. Fatal für eine Biographie sind Datenfehler, so wenn Bosse Coudray im November 1804 nach Italien gehen lässt (S. 33), seine Rückreise dann aber in den Juli 1804 fällt (S. 41). Auch die für 1882 behauptete Teilnahme an einem Gottesdienst (S. 96) ist angesichts der biographischen Rahmendaten eher unwahrscheinlich.

Auch sonst weist das Buch einige Merkwürdigkeiten auf: Die sehr harte Klebung des Buchblocks macht seine Handhabung alles andere als vergnüglich, und auch die Logos der Thüringischen Landeszeitung und der Sparkasse Mittelthüringen, die prominent vorne auf dem Umschlag prangen, fand ich verstörend.

Alles in allem ein weiteres Buch zum Goethe-Umfeld, das auch genauso gut hätte ungedruckt bleiben dürfen. Wen Weimarer Regionalia interessieren, dürfte halbwegs gut bedient werden.

Hannes Bosse: Clemens Wenzeslaus Coudray. Weimar: Weimarer Taschenbuch Verlag, 2007. Broschur, 142 Seiten. 9,90 €.

„Goethes letzte Reise“

damm_reiseSigrid Damms neues, nettes und weithin belangloses Lesebuch erzählt in dem weitgehend beliebigen Stil, der für Sigrid Damms Bücher inzwischen typisch geworden ist, Goethes letzte Lebensmonate. Den Rahmen bildet, abgesehen vom letzten Kapitel, das von Goethes Sterben berichtet, die letzte mehrtägige Abwesenheit Goethes von Weimar im August 1831. Um den Weimarer Feierlichkeiten zu seinem 82. Geburtstag zu entgehen, macht sich Goethe mit seinen beiden Enkeln Walther und Wolfgang auf die Reise ins nahegelegene Ilmenau, besucht die Jagdhütte auf dem Kickelhahn noch einmal, macht einige Ausflüge und kehrt am 31. August wieder nach Weimar zurück.

In diesen Rahmen passt Sigrid Damm zahlreiche Reflexion zu diversen anderen Themen und Zeiten in Goethes Leben ein: Seine Bemühungen um den Ilmenauer Bergbau, seine letzte Liebe zu Ulrike von Levetzow, das Gedicht Über allen Gipfeln ist Ruh, der Tod seines Sohnes August in Rom, Goethes Glaube an das Fortbestehen des Geistes nach dem Tode, Gestaltung und Inhalt des zweiten Teils des Faust und Vulkanismus contra Neptunismus dürften die wichtigsten sein. Alles wird locker aneinander gereiht und ist mit dem Hauptthema des Buches – als das sich schließlich Goethes Tod, seine „letzte Reise“, erweisen wird – mehr oder weniger eng und sinnfällig verknüpft.

Das meiste gerät dabei zur Nacherzählung der gerade für den Text benutzten Quellen, wobei sich die Redundanzen im Vergleich zu Christiane und Goethe in Grenzen halten, aber auch nicht vermieden werden. Anderes wird einfach daherzitiert und erweckt weniger den Eindruck einer Erzählung als den eines ausgekippten Zettelkastens, so etwa die Geschichte Friedrich Augusts von Fritschs (S. 246 f.).

Die lockere Struktur mag jenen entgegenkommen, die ein eher empathisches als reflektives Verhältnis zu Goethes Werk und Leben pflegen. Nicht umsonst fallen Fragen wie „Stellt nicht diese Dichtung die höhere Wahrheit dar?“ (S. 200), selbstverständlich ohne eine Antwort zu erfahren; die hinweisende Geste verbindet all jene, die gleichen Geistes sind. An anderen Stellen spricht Damm davon, wie „berührt“ oder „angerührt“ sie ist, ohne dass der Text auch nur einen einzigen Schritt über die Emotion hinausgelangt. An einer Stelle bleibt Damms Lektüre der Quelle gar so oberflächlich, dass eine echte Pointe resultiert. Sie zitiert einen Brief Goethes an Amalie von Levetzow, der Mutter Ulrikes:

Dabey, hoff ich, wird sie nicht abläugnen, daß es eine hübsche Sache sey, geliebt zu werden, wenn auch der Freund manchmal unbequem fallen möchte.

Und nun folgen im typischen Damm-Stil einige Fragen, die die Interpretation nicht leiten, sondern ersetzen:

Und der Schluß des Satzes, worauf deutet er? Wohl nicht auf den Troubadour, der vor den Augen der Angebeteten auf den Knien liegt, sondern auf den alten Mann, der ausrutscht und sich nicht wieder aufzurichten vermag? (S. 207)

Damm liest die Wendung „unbequem fallen“ tatsächlich im Sinne von „stürzen“, nicht als „lästig fallen“, wie sie offensichtlich gemeint ist.

An wieder anderer Stelle wird vergessen, was nur wenige Seiten zuvor berichtet worden ist, so wenn auf S. 285 ein Brief des Enkels Wolfgang zitiert wird, der die geplante Rückreise nach Weimar über Schwarzburg und Rudolstadt ankündigt, und Enttäuschung der Enkel darüber vermutet wird, dass man nun doch den gleichen Weg zurück nehmen wird, den man gekommen ist. Auf Seite 317 wird dann spekuliert, dass man diesmal in Stadtilm ein „dem hohen Gast angemessenes Mittagsmahl“ vorgesetzt haben könnte:

Bei der Herfahrt hat man die Bestellung aufgegeben. Da die Gasthofrechnung nicht überliefert ist und auch Krauses Tagebuch keine Auskunft gibt, können wir es nur vermuten.

Ja, vermuten kann man vieles. Warum man allerdings ein Mittagsmahl bestellen soll, wenn man weder den Rückreisetag kennt noch plant, überhaupt auf der Rückfahrt wieder vorbeizukommen, können wir nicht einmal vermuten – nur Sigrid Damm könnte.

Insgesamt nur ein weiteres oberflächliches, unordentlich erzähltes Buch von Sigrid Damm. Inzwischen macht es keinen Unterschied mehr. Für diejenigen, die sich als Goethe-Freunde empfinden und jene, die von Goethe wenig wissen und sich einen ersten, flüchtigen Eindruck verschaffen wollen, sicherlich kein schlechtes Lesebuch. Für den ernsthaft an Goethe und seiner Zeit Interessierten gänzlich unerheblich.

Sigrid Damm: Goethes letzte Reise. Frankfurt/M: Insel Verlag, 2007. Pappband, 364 Seiten. 19,80 €.

Goethe rühmte diese Rübe

Die märkischeallgemeine.de führt Goethe als Rüben-Autorität an:

Danach wurde die Rübe auch in Frankreich geschätzt und später rühmte sogar Johann Wolfgang von Goethe den eigentümlichen Geschmack.

Richtig ist allerdings, dass Goethe am 28. September 1807 Carl Friedrich Zelter bittet:

Sodann würden Sie mich sehr verbinden, wenn Sie mir einen Scheffel echte Teltower Rüben schicken könnten, aber freilich bald, ehe die Kälte eintritt.

Dass Goethe die Teltower Rübchen sehr wohl geschätzt haben muss, geht aus einer späteren Anekdote hervor:

Meine [Friedrich Försters] Frau erging sich aufs neue in lebhafter Schilderung des fürstlichen Komponisten und Virtuosen und fügte dann hinzu: «Wir wollen es schon noch durchsetzen, daß Exzellenz nach Berlin kommen, ich habe mit Doris und Rosamunde [Zelters Töchtern] eine kleine Verschwörung gemacht.» – «Und wollen Sie mir davon nicht vorher einen kleinen Wink geben?» fragte Goethe. – «Nicht alles, aber etwas will ich davon verraten. Wir halten die in Aussicht gestellte Sendung der delikaten Teltower Rübchen zurück und liefern Sie nur aus, wenn Sie sie selbst abholen.» – «Da seht ihr guten Kinder nun», sagte Goethe, zu den andern Damen gewendet, «wie gefährlich die lieben Berlinerinnen uns sind. Wenn es ihnen mit ihrem Lockvogel auf dem Cello nicht gelingt, so halten Sie eine Lockspeise bereit, so daß wir am Ende doch wohl anbeißen.»

Stellt sich nur noch die Frage, ob dies genügt, Goethe als führenden Rüben-Experten des 19. Jahrhunderts zu etablieren?

Goethe-Schokoladentaler

Wohlgemerkt: „nach Rezepturen von Goethes Ehefrau Christiane Vulpius“ – dann muss es ja schmecken!

„Goethes Hochzeit“

Wolfgang Frühwald hat in der Insel Bücherei ein kleines Bändchen vorgelegt, dass sich um den Lebenskomplex Goethes zur Zeit seiner Hochzeit im Oktober 1806 dreht. Unmittelbar vorausgegangen war die Niederlage des preußischen Heeres bei Auerstedt und das Eindringen der marodierenden französischen Soldaten in Weimar. Dabei soll es, nach Darstellung der Zeitgenossen, zu einer kritischen Situation im Hause Goethes gekommen sein, die angeblich durch das todesmutige Dazwischentreten Christianes entschärft worden sein soll. Die Lage im Hause Goethe entspannte sich rasch, als sich hohe französische Offiziere einquartierten und damit weiteren Übergriffen ein Riegel vorgeschoben wurde.

Nur wenige Tage später heirateten Goethe und Christiane Vulpius in der Jakobskirche. Goethe betont später, dass ihm durch die durchlebte Gefahr zu Bewusstsein gekommen sei, dass weder seine langjährige Geliebte noch sein damals noch minderjähriger Sohn versorgt sein würden, wenn ihm etwas zustieße. Dies scheint die Hauptmotivation gewesen zu sein, die Lebensgemeinschaft mit Christiane endlich zu legalisieren, wenn Goethe auch nicht hoffen konnte, dass dieser Schritt dazu führen würde, das Ansehen seiner Frau in den Augen der Weimarer Gesellschaft zu heben.

Frühwald stellt die Hochzeit völlig zu Recht in einen breiten Rahmen ein, der bei Goethes Verhältnis, besser Unverhältnis zum Tod anfängt, die historischen Lage Weimars im Oktober 1806 umfasst und sich schließlich auch Goethes Verständnis der Ehe zuwendet. Leider behandelt er hier nur das Gedicht „Das Tagebuch“ etwas ausführlicher; der in der Sache gewichtigere Roman „Die Wahl- verwandtschaften“ hätte wohl den Rahmen des Bändchens gesprengt und kommt deshalb nur am Rande vor.

Der Text ist aus einem Vortrag zum 200. Hochzeitstag Goethes hervorgegangen. Fachleute sollten nicht auf Neues hoffen; auch bildet die Hochzeit nur den Fokus für großräumige Überlegungen, die insgesamt wenig überraschend oder originell sind. Das Büchlein ist eine angenehme und leichte Lektüre, sicherlich als Geschenk hervorragend geeignet oder als nachmittägliche Lektüre für denjenigen, der wieder einmal entspannt ein paar Stunden mit Goethe verbringen möchte. Frühwald gehört sowohl in seiner Sprache als auch mit seinem Ansatz zur Interpretation noch ganz zur alten Schule:

Das ewig unergründliche und zur Sünde geneigte Menschen- herz ist dem Walten eines Göttlichen unterworfen. Auch die stärkste im Menschen waltende Kraft der Natur, die Sexua- lität, kann Gedächtnis gewinnen, kann dem Humanen, der Erinnerung dienstbar werden. Denn nur dort, wo Sexualität Erinnerung schenkt, ist sie Teil der Liebe.

Wer gegen solche Sätze nicht allergisch ist, kann an dem Bändchen durchaus sein Vergnügen haben.

Wolfgang Frühwald: Goethes Hochzeit. Insel-Bücherei Nr. 1294. Frankfurt/M.: Insel Verlag, 2007. Bedruckter Pappband, Faden- heftung. 80 Seiten. 11,80 €.

Intuitives Vertrauen

Die heutige SZ bringt ein Interview mit dem Filmemacher Fatih Akin, indem er unter anderem von Goethes Einfluss auf seine Denken und Handeln erzählt:

In einem anderen seiner [Jan Philipp Reemtsmas] Bücher habe ich dieses Goethe-Zitat entdeckt, das im Film vorkommt. Goethe spricht sich gegen die Revolution aus, er sagt sinngemäß: Dabei geht so viel altes Gutes kaputt, wie neues Schlechtes erschaffen wird. Ich habe, gerade in der Türkei, viele Freunde, die aus so einem revolutionären Kontext kommen, und ich war früher selber so: wir brauchen eine Revolution. Dann kommt also dieser Goethe daher, dem ich irgendwie intuitiv vertraue, und der sagt mir: Revolution, das ist nicht die Lösung.

Walser macht Goethe die Ulrike

Der Standard hat ein Interview mit Martin Walser geführt, das für seinen seit einiger Zeit durch die Medien geisternden neuen Roman tatsächlich das Schlimmste befürchten lässt:

Standard: Sie haben einen Goethe-Roman angekündigt, „Ein liebender Mann“. Wie wurde Ihnen der zugeliefert?

Walser: Ich habe über Goethes Leidenschaft für die 55 Jahre jüngere Ulrike von Levetzow ein Buch geschrieben. Über diese Frau gibt es nur dürftige, lächerliche Meldungen. Wenn das Ulrike war, dann spinnt der Goethe, wegen der braucht er keine Marienbader Elegie schreiben. Ich habe ihm jetzt eine Ulrike gemacht, die wär’s, die hätte ich ihm gegönnt. Ich war angesteckt von Goethes Leidensqualität, bin es immer noch. Ich habe sogar Briefe von ihm an Ulrike geschrieben.

Standard: Als Goethe?

Walser: Verrückt, nicht? Aber, mein Lieber, für die kann er dankbar sein. Ohne jede Imitation, ohne jeden historistischen Quatsch. Ich habe gewusst, ich bin so drin, dass alles, was ich jetzt schreibe, ganz genau stimmt. Vor Kurzem war ich im Goethe-Haus in Weimar. Da hat einer den erstaunlichen Satz gesagt: Herr Walser, so ein Buch erwartet man von Ihnen. Ich habe nicht nachgefragt, warum. Weiß der Teufel, was er alles gedacht hat, aber ich empfand diesen Satz wie eine Ermächtigung.

Standard: So gut können Ihre Sätze gar nicht sein, dass nicht Kritiker kommen werden, die sagen: Jetzt spinnt er, der Walser – er glaubt, er sei Goethe.

Walser: Ja, das wird noch lustig. Es kommen bei mir Wörter vor, die sage ich jetzt nicht. Aber ich würde mit Ihnen jede Wette machen, 90 Prozent aller Kritiker werden sagen, diese Wörter hätte er nun wirklich weglassen können, die gab es nicht bei Goethe. Aber da sind 1827 im Gespräch Wörter wie von heute gefallen. Ich bin momentan noch so drin in diesem Buch, ich weiß gar nicht, wie ich wieder herauskommen soll. Solange ich schreibe, bin ich glücklich. Wenn ich geschrieben habe, ist nix. (blickt auf den Bodensee) Höchstens Schwimmen, das hilft auch. Schreiben oder Schwimmen. (Sebastian Fasthuber, DER STANDARD/Printausgabe, 22./23.09.2007)

Goethe und die Globalisierung

Ganz lange Linien zieht Manfred Osten in der NZZ:

Beschleunigung und rasender Stillstand, Herkunftsvergessenheit und sittliche Verwilderung: Die Phänomene der Globalisierung sind keine Erfindung der Moderne. Bereits Goethe ahnte, was auf die Menschheit zuzukommen drohte. Zumal im «Faust» kann man es nachlesen.

Das geht zum Beispiel so:

Mit dem Verlust der Parameter der Humanität öffnet Goethe aber auch das Tor zur (ironischen) Antizipation globaler Science-Fiction-Phantasien mit dem Ziel einer Optimierung des Menschen. Der Versuch, den menschlichen Phänotyp zu ändern durch Eingriff in seinen Genotyp, misslingt zwar (im zweiten Teil der «Faust»-Tragödie): Der (mit Mephistos Hilfe) künstlich generierte Mensch präsentiert sich als nur halb zur Welt gekommener Homunculus. Aber gelungen ist, wie die intellektuellen Kunststücke dieses Homunculus zeigen, ein wichtiges Ziel des zum Gentechniker avancierten Famulus Wagner, «ein Hirn, das trefflich denken soll». Eine Optimierung des menschlichen Gehirns also, die bereits die Frage aufwirft, wem im Reich evolutionswissenschaftlich begründeter Beliebigkeit die Entscheidungskompetenz in Fragen einer künftigen Bestimmung des menschlichen Phänotyps zuerkannt werden soll.

Wenigstens mit einem sollte Goethe im „Faust“ Recht behalten:

FAUST.
Mich dünkt, die Alte spricht im Fieber.
MEPHISTOPHELES.
Das ist noch lange nicht vorüber,
Ich kenn’ es wohl, so klingt das ganze Buch;
Ich habe manche Zeit damit verloren,
Denn ein vollkommner Widerspruch
Bleibt gleich geheimnisvoll für Kluge wie für Toren.
Mein Freund, die Kunst ist alt und neu.
Es war die Art zu allen Zeiten,
Durch Drei und Eins, und Eins und Drei
Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten.
So schwätzt und lehrt man ungestört;
Wer will sich mit den Narr’n befassen?
Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,
Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.

Copyright © 2024 by: Fliegende Goethe-Blätter • Design by: BlogPimp / Appelt Mediendesign • Lizenz: Creative Commons BY-NC-SA.