Während meiner Studienzeit in Tübingen hielt der verehrungswürdige Professor Richard Brinkmann, dem wir zahlreiche Einsichten in den Bürgerlichen Realismus verdanken, mit einiger Regelmäßigkeit eine zweisemestrige Vorlesung »Der junge Goethe«. Ich habe diese Veranstaltung nur ein einziges Mal besucht, bei einer der Eröffnungsvorlesungen.
Brinkmann begann seine Darstellung mit einer kritischen Reflexion dessen, was über Goethe bislang behauptet worden war. Das ging, kurz gefasst, etwa so:
»Goethe, der geniale Lyriker? … Wissen Sie, das kann man heute eigentlich nicht mehr sagen. – Goethe, der geniale Dramatiker? … Auch das lässt sich in dieser Allgemeinheit eigentlich nicht vertreten. … Goethe, der geniale Prosaautor? … Nein, auch das würde man wohl nicht mehr behaupten wollen. – Goethe, der geniale Naturwissenschaftler? … Das wolle man heute über Goethe sicherlich am allerwenigsten sagen.«
Diese Würdigung des Nichtsagbaren dauerte etwa 30 Minuten. Und nun traf der alte Brinkmann, rhetorischer Fuchs, der er war, den Nerv der zitternd über dem Auditorium lagernden Stimmung mit dem Satz:
»Nun werden Sie sich fragen, was sich denn eigentlich über Goethe heute noch sagen lässt.« Alle wachen Studenten hingen an seinen Lippen. Parturient montes – »Nun, trotz all den Einwänden und Bedenken bleibt doch immer der Eindruck eines universalen Geistes,« – doch da meldete sich Brinkmanns kritische Bedenklichkeit noch einmal zurück – »obwohl man es so eigentlich nicht sagen kann,« – und dann brach es sich in ihm Bahn – »aber irgendwie muss man es ja sagen!«
Nichts weiter hat sich mir noch einprägen wollen.