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Goethe in der modernen Welt

»… dieser beknackte Roman des großen Goethe …«

Tom Appleton kommt bei Telepolis in einer dort sogenannten Glosse unter dem Titel »Literatur als Lebenslüge« unter anderem auch auf Goethes »Die Wahlverwandtschaften« zu sprechen:

Aber mein Thema hier lautet: „Die Lebenslüge als Grundlage der deutschen Literatur“. Und sie beginnt, für meinen Geschmack, bereits bei den „Wahlverwandtschaften“ von Goethe – ein Riesenbestseller zu seiner Zeit. In einer neueren Ausgabe findet sich neben dem Roman selbst ein ellenlanger Essay dazu von Walther Benjamin, der an Scharfsichtigkeit wenig zu wünschen übrig lässt. Das eklatanteste und ekelerregendste Detail des Goetheschen Romans ist Benjamin allerdings keine einzige Zeile wert. Es ist ihm vielleicht gar nicht aufgefallen.

Nämlich Goethes Behauptung, dass, wenn eine Frau mit einem Mann schläft und dabei an einen ANDEREN Mann denkt, dass dann ihr Kind so aussehen könnte, wie der Mann, an den sie bei der Erfüllung ihrer langweiligen ehelichen Pflichten gedacht hat. Man muss sich die Ignoranz in sexuellen Dingen vorstellen, die damals in der gesamten Bevölkerung vorherrschte, aber eben gerade auch unter den Frauen – um zu ermessen, welches Unheil und Leiden dieser beknackte Roman des großen Goethe wohl über Generationen von Frauen gebracht hat. Als Mindestes konnten die „feministisch“ orientierten Frauen damals andere Leserinnen vor diesem „unmoralischen“ Roman warnen. Was aber wohl nicht viel genutzt haben dürfte.

Das ist insgesamt natürlich nur ein Beweis mehr für die überwältigende Ahnungslosigkeit, die Person, Werk und Zeit eines der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller beherrscht. Witzig wird es aber, wenn man weiß, was Walter (!) Benjamin in besagtem Essay über die Reaktion des Publikums auf den Roman geschrieben hat:

Kopfscheu, dumpf, wie geschlagen stand es vor einem Werke, in dem es nur die Hilfe aus den Wirrnissen des eigenen Lebens suchen zu sollen meinte.

4 Kommentare zu „»… dieser beknackte Roman des großen Goethe …«“:

  1. Oliver Scholz

    Ich bin ja recht dankbar, dass noch jemand diesen Artikel albern und stellenweise schäbig fand; und es geht mir immer das Herz auf, wenn noch jemand Goethe schätzt. Aber ganz sehe ich hier nicht, was Dein Punkt ist. Man könnte und sollte zu diesem Zitat noch einiges anderes sagen. Und wenn ich nicht so faul und unwissend wäre, täte ich es auch. Das Goethe frauenfeindlich gewesen sei, was mir hier wieder einmal anzuklingen scheint, kann man wohl nur ohne Scham behaupten, wenn man sich nie die Mühe gemacht hat, das Frauenbild seiner Romane genauer zu beachten. Das gilt auch für die Wahlverwandschaften. (Ich zähle zu denen, welche die Wahlverwandtschaften für den idealen Roman halten, aber das ist ein anderes Thema.) Selbst wenn Goethe tatsächlich geglaubt hätte, das die biologische Fortpflanzung so funktioniert, wie hier inkriminiert, so ist nicht recht einzusehen, wieso daraus den Frauen ein Unheil entstehen solle. Wenn die literarisch gebildeten Frauen der Spätaufklärung und der Frühromantik tatsächlich die Dummchen gewesen wären, für die Appleton sie hält, dann hätte ihnen der Irrglaube immerhin die Genugtuung gegeben, an ihren Ehegatten heimlich eingebildete Rache zu vollziehen, indem sie ihnen gefahrlos das Kind eines anderen unterschöben. In der italienischen Renaissance gab es einen ähnlichen Irrtum, wie den, welchen Appleton hier Goethe unterstellt. Dass nämlich ein Kind nur gezeugt würde, wenn Mann und Frau gleichzeitig einen Orgasmus hätten. Appleton würde vielleicht auch das für unmoralisch und antifeministisch halten, aber nüchtern betrachtet sagt dieser Irrglaube wohl mehr über das erotische Verhältnis von Mann und Frau in der Renaissance aus als über den Stand der medizinischen Wissenschaft. Und so auch hier: wenn das Bildungsbürgertum der Klassik das wirklich geglaubt hätte, dann hätte es immerhin die Konsequenz gehabt, dass in deren Augen der bloß äußerliche Gehorsam der Frau nichts aber auch gar nichts nützte und es völlig sinnlos und unverständig wäre, ihn erzwingen zu wollen.

    Mir selbst scheint Goethes Kunstgriff ja eher poetische Willkür zu sein, keineswegs aus Irrtum geboren, sondern aus der dichterischer Grandezza. Mir scheinen nämlich die Wahlverwandtschaften insgesamt dem Ton gehalten zu sein, der in dem „so nennen wir …“ des ersten Satzes schon anklingt. In dem, was Appleton für Unwissenheit über Fortpflanzung hält, liegt meines unmaßgeblichen Erachtens viel Ironie und attisches Salz.

    — Oliver

  2. MF

    Ich habe mir wohl auch überlegt, ob ich auf den Unsinn nicht ausführlicher antworten sollte, fand aber alles, was einzuwenden wäre, so selbstverständlich, dass es unter das Diktum fiele:

    Getretner Quark
    Wird breit, nicht stark.

    Aber, ganz wie es Euch gefällt …

  3. tom appleton

    es ist bedauerlich, dass ich walter benjamins namen mit th statt mit einfachem t geschrieben habe, sowas passiert leider immer wieder. sollte nicht, aber tut es. dass goethe nach heutigem verständnis ein sexist war, und das auch gerade in den wahlverwandschaften, wäre ein schlichter FAKT, wenn irgend jemand sich die mühe machen würde, seine sachen überhaupt mal wieder zu lesen. oder kritisch gegen den strich zu lesen. ich finde die wahlverwandschaften jedenfalls ein zutiefst ungustiöses buch — nur: darüber lässt sich in wenigen zeilen kaum etwas substantielles sagen. aber lassen sie doch mal ihre FRAUen das buch lesen, meine herren…! ich glaube, dann werden sie augen machen…! — TA

  4. MF

    Was tut es aber zur Sache, dass Goethe „nach heutigem Verständnis“ ein Sexist wäre, selbst wenn das stimmen würde? Was soll es nützen, Goethes Werke „kritisch gegen den Strich“ zu lesen, wenn dabei nur Unfug herauskommt? Und wofür sollten die „gemachten Augen“ ein Argument sein, wenn sie denn tatsächlich gemacht würden?

    Nicht die Sache ist das Vortreffliche, sondern Ich bin der Vortreffliche und bin der Meister über das Gesetz und die Sache, der damit, als mit seinem Belieben, nur spielt und in diesem ironischen Bewußtsein, in welchem Ich das Höchste untergehen lasse, nur mich genieße. – Diese Gestalt ist nicht nur die Eitelkeit alles sittlichen Inhalts der Rechte, Pflichten, Gesetze – das Böse, und zwar das in sich ganz allgemeine Böse –, sondern sie tut auch die Form, die subjektive Eitelkeit, hinzu, sich selbst als diese Eitelkeit alles Inhalts zu wissen und in diesem Wissen sich als das Absolute zu wissen. – Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 140 f).

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