Goethe hat an seinem »Faust« mit großen Unterbrechungen von 1773 bis 1832 gearbeitet; der zweite Teil ist schließlich in seinem Todesjahr aus dem Nachlass erschienen, so dass der Titel des Insel-Almanachs auf das Jahr 2008 „Zweihundert Jahre Goethes »Faust«“ auf den ersten Blick erst einmal verwundert. Als Stichjahr dient hier das Erscheinungsjahr des ersten Teils, der schon 1806 abgeschlossen wurde, aufgrund von Kriegsunruhen allerdings erst im Jahr 1808 erscheinen konnte. Da nun angesichts des beinahe 60-jährigen Zeitraums, in dem der Stoff Goethe beschäftigt und begleitet hat, sowieso jedes Datum willkürlich erscheint, kann das Jahr 1808 ebenso gut als Jubiläum gefeiert werden wie 1773, 1775, 1806 oder 1832.
Der Band liefert eine gelungene Mischung von Aufsätzen namhafter Goethe-Forscher aus den letzten zehn Jahren zum »Faust« und Originaltexten, die von der „Historia von D. Fausten“ (1589) über Marlowe, Klingemann, Heine und Vischer bis zu einem Gedicht Peter Huchels reichen. Die Aufsätze präsentieren eine breite Palette von Zugriffen auf den Text, die von Albrechts Schönes kenntnis- reicher Erörterung von Zusammenhängen zwischen Goethes naturwissenschaftlicher Beschäftigung und konkreten Textstellen im »Faust« bist zu Manfred Ostens Spekulationen über die Bedeutung der Beschleunigung im »Faust« und der modernen Welt reicht. Besonders herausgehoben werden sollte die kurze, aber dennoch ausgewogene und sorgfältige Darstellung des jahrzehntelangen Entstehungsprozesses des »Faust« durch Siegfried Unseld, die den Band beschließt.
Etwas verwundern kann vielleicht einzig, dass der Großteil der theoretischen Texte den Fokus auf den zweiten Teil der Tragödie legt und dadurch in eine gewisse Spannung zum Jubiläumsjahr gerät. Aber derlei sind Kleinigkeiten, und die starke Präsens des Spätwerks spiegelt ganz richtig die derzeitige (germanistische) Interessenlage wider, die auch in Peter Steins Komplett-Inszenierung des Textes im Jahr 2000, die wenigstens keine offensichtlichen Spuren in dem Band hinterlassen hat, aufscheint. Nicht, dass der Leser nach der Lektüre das Gefühl hätte, es sei in den letzten 175 Jahren ein wesentlicher Erkenntnisfortschritt, der über die Deutung von Details hinausginge, erzielt worden. Im Gegenteil bleiben die Zugriffe auf den zweiten Teil bis heute im Wesentlichen so erratisch und unein- heitlich wie das Werk selbst. Aber dies zu dokumentieren ist auch ein wichtiger Schritt der Rezeptionsgeschichte.
Insel-Almanach auf das Jahr 2008. Zweihundert Jahre Goethes »Faust«. Zusammengestellt v. Christian Lux u. Hans-Joachim Simm. Frankfurt/M.: Insel, 2007. Broschur, 264 Seiten. 8,90 €.